Bei einer leichten Segelbrise und strahlendem Sonnenschein verlassen wir kurz vor Mitternacht den nördlichsten Ankerplatz unserer Reise. An Backbord zieht eine Nebelwalze auf, die uns in kürzester Zeit in dicke Watte hüllt. Mit stets einem Mann im Eisausguck nehmen wir bei leichten Winden Kurs Süd-Ost. Gegen Morgen schläft der Wind ein. Um unsere begrenzten Dieslvorräte (insgesaqmt 300 Liter) nicht zu stark anzugreifen, läuft die Maschine nur im unteren Drehzahlbereich. In slow motion zieht die unberührte Küste Ost-Spitzbergens an uns vorbei, bis wir am frühen Nachmittag den weißen Leichtwind-Spinnaker setzen können. Unsere Segelerherzen schlagen höher: Seit langem ziehen wir wieder mit konstanten 7 Knoten unsere Bahn durchs Wasser.
Gegen 19 Uhr bergen wir den Spi und steuern unseren Ankerplatz im Norden der Insel Kiepertoeya an. Auf dem Herd brodelt das von Richard angeregte und von Peter und mir zu Ausführung gebrachte Rindergulasch. Der wohlige Geruch steigt nicht nur den hungrigen Seglern an Deck in die Nase. Auf den schwarzen Basaltsteinen am Ufer reckt ein Eisbär interessiert seine Schnauze in unsere Richtung. Wir scheinen nicht die einzigen zu sein, die sich auf ein schmackhaftes Abendessen freuen!
Nach einer Stunde gegenseitigen Beschnupperns hat der weiße Bär genug. Er dreht sich um und kehrt uns demonstrativ den Rücken zu. Zwischenzeitlich hat der Wind aus Norden aufgefrischt und wir müssen unseren ursprünglich angepeilten Ankerplatz aufgeben. Stattdessen fällt der Anker auf der Südseite der Insel. Einen Aufenthalt über das Abendessen hinaus lassen der zunehmende Wind und die hungrigen Augen eines weiteren Eisbären allerdings nicht zu. Hoch oben auf den Klippen steht er und späht neugierig zu uns hinunter.
Wir rollen die Genua aus und verabschieden uns. Constantin und ich übernehmen die erste Wacheinheit. Bei bis zu 28 kn Wind rauschen wir auf Raumschotkurs weiter Richtung Süden. Kurz nach 1 Uhr morgens taucht am Horizont eine Insel auf. Aus der Ferne erinnert sie mit ihrer Steilküste an die Kreidefelsen von Dover. In der Seekarte ist allerdings keine entsprechende Eintragung zu finden. Irgendwas stimmt hier nicht! Erneute Blicke durchs Fernglas bestätigen unsere Vermutung. Das ist keine Insel, das ist ein Mega-Eisberg! Wir passieren den Eisriesen in der Größe Helgolands mit respektablem Abstand und sehen ihn wenig später vor der Mitternachtssonne an Horizont verblassen. Nach einem über 6-stündigen Ritt durch die aufgewühlte See der Olgastreet erreichen wir am frühen Morgen unser Etappenziel. Im Schutz der Freemansunds fällt der Anker in seicht gekräuseltes Wasser. Wir fallen müde in die Kojen und träumen von hungrigen Eisbären und märchenhaft großen Eisbergen.